Dieses Kapitel aus dem Buch Führung und Gesundheit zeigt Wege auf, wie sich offizielle Vorschriften und andere Türöffner fürs BGM nutzen lassen.
Türöffner und wie Sie sie richtig nutzen
Erfreulicherweise gibt es einige Türöffner in Ihrem Unternehmen. Damit meine ich jetzt Strukturen, die bereits vorhanden sind und auf die Sie zurückgreifen können, wenn Sie die psychosoziale Gesundheit fördern möchten. Mit ihrer Hilfe können Sie das Thema „Führung und Gesundheit“ quasi einschmuggeln in den Betrieb. Und wenn gar nichts geht in puncto Überzeugung, dann müssen Sie vielleicht auf diese Hintertürchen zurückgreifen.
Das Sozialgesetzbuch und das Jahressteuergesetz als Türöffner
Es gibt zum Beispiel rechtliche Grundlagen für Ihr Anliegen. Insbesondere ist hier §20a SGB V zu nennen. Dieser sieht eine Stärkung der individuellen und sozialen Ressourcen vor, und zwar durch Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung, die auch durch die gesetzlichen Krankenversicherungen gefördert werden dürfen. Eine davon ist – laut einem Leitfaden der Krankenkassen-Spitzenverbände – die „Gesundheitsgerechte Mitarbeiterführung“ (neben Stress, gesunder Ernährung, Bewegung und der Prävention von Suchtmittelkonsum). Seminare zu diesen Themen sind also im Prinzip bezuschussbar.
Bevor Sie in Jubel ausbrechen: Wie viel man tatsächlich bekommt, hängt von zahlreichen Faktoren ab (zum Beispiel dem Anteil der bei der Kasse Beschäftigten; außerdem gibt es große Unterschiede zwischen den Kassen – einige kümmern sich schon seit langem um BGM und haben einige Fachleute, für andere ist dies noch Neuland). Aber immerhin.
Wenn in der heutigen Zeit und angesichts des aktuellen Zustands des Gesundheitssystems Krankenkassen in Deutschland etwas bezahlen – in der Praxis eher: bezuschussen –, dann will das schon etwas heißen. Wir wissen ja alle, wie klamm die Kassen sind. Auf diesen Passus können Sie also verweisen mit dem Tenor „Wenn sogar die Krankenkassen Seminare zur gesundheitsgerechten Mitarbeiterführung sponsern!“ Sie brauchen den Satz gar nicht beenden. Das wird im Kopf Ihres Gesprächspartners ganz von allein passieren. Sprich: Er macht die (gedankliche) Arbeit. Das ist gesprächstechnisch höchst sinnvoll, es erhöht nämlich die Identifikation mit dem Thema.
Auch die neue 500 Euro-Regelung macht Betriebliches Gesundheitsmanagement für Unternehmen noch attraktiver. Rückwirkend ab 1.1.2008 müssen Beträge, die der Arbeitgeber für die Gesundheit seiner Beschäftigten ausgegeben hat, nicht mehr als geldwerter Vorteil versteuert werden. Dadurch soll Maßnahmen zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement der Weg gebahnt werden. Deren offizielle „Gewolltheit“ wird damit deutlich.
Die Gefährdungsbeurteilung als Türöffner
Auch die gesetzlich vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung kann ein Türöffner sein. Rein rechtlich betrachtet, ist jeder Arbeitgeber zu ihrer Durchführung verpflichtet. Allerdings – aus psychologischer Sicht ist das schwach – gibt es keine negativen Folgen, falls sie nicht gemacht wird. Sinnvoll wäre aus psychologischer Sicht, dass zum Beispiel die Berufsgenossenschaften höhere Mitgliedsbeiträge erheben dürfen für solche Betriebe, die sich bislang vor der Gefährdungsbeurteilung gedrückt haben. Immerhin gibt es inzwischen schon einzelne Modellkonzepte zur Beitragsrückerstattung für gut aufgestellte Betriebe.
Jedenfalls gilt: Die meisten Arbeitgeber wissen gar nicht, dass es eine gesetzliche Verpflichtung gibt, eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Das ist Neuland für sie – gut für Sie! Auch dass die Geschäftsleitung in den seltensten Fällen weiß, dass es keine Sanktionen gibt bei Nicht-Durchführung, können Sie für sich nutzen. Allerdings gibt es auch eine Falle. Wenn die Gefährdungsbeurteilung als Ergebnis zu Tage fördert, dass es den Leuten körperlich an nichts fehlt, und wenn zudem die Fehlzeitenquote niedrig ist, denkt der Vorstand: „Wo bitte ist da ein Problem? Wir haben keins.“
Deshalb ist es wichtig, von vornherein auch psychosoziale Aspekte zu erheben.
Achten Sie daher auf die Ganzheitlichkeit der Gefährdungsbeurteilung! Es sollten nicht nur körperliche Risikofaktoren erfasst werden, sondern auch psychische, die zum Beispiel entstehen aufgrund von Schichtarbeit, Monotonie, Arbeitsplatzunsicherheit, Zeitdruck, Überstunden oder kränkendem Führungsverhalten. Die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung sollten Sie mit allen, die sich im Betrieb für Gesundheit einsetzen, diskutieren.
Und zwar ohne rechthaberische Töne à la „ich hab’s ja immer schon gewusst: Der Betrieb krankt“. Sinnvoller ist – wie eigentlich grundsätzlich beim Führen von Gesprächen –, die anderen zu fragen, welche Konsequenzen sie aus den Ergebnissen der Gefährdungsbeurteilung ziehen möchten. Ob es noch weitere Untersuchungen wie zum Beispiel eine Mitarbeiterbefragung geben soll.
Es gibt ein individuelles Recht auf Gefährdungsbeurteilung.
Der Arbeitgeber muss also aktiv werden, wenn die Beschäftigten es wollen. Es ist Ausdruck von Misstrauen, wenn Beschäftigte nicht den Mut haben, bei der Gefährdungsbeurteilung mitzumachen. Das sollte zu denken geben. Befürchtungen hinsichtlich des Zeitaufwands lassen sich übrigens in der Regel entkräften: Der Aufwand (die kleinste Einheit beträgt 5-6 Leute) beträgt etwa 2×2½ Stunden Information und ein Fragebogen sowie ein Gesundheitszirkel, das dauert etwa 6 Wochen.
Die Gefährdungsbeurteilung umfasst im Grunde nicht nur einen, sondern vier Schritte: Analyse, Beurteilen, Maßnahmen, Wirksamkeit nachweisen. Ein Fragebogen oder andere Instrumente haben daher lediglich eine Türöffner-Funktion. Sie sind mitnichten die halbe Miete. Was hinter der Tür steckt, muss man sich dann erst genau anschauen. Die Arbeit fängt quasi danach erst an. Von der Idee her handelt es sich bei der Gefährdungsbeurteilung also um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess.
Wichtig ist bei der Gefährdungsbeurteilung wie bei anderen Maßnahmen: Hüten Sie sich vor falschen Versprechungen! Mit jeder Analyse weckt man Erwartungen. Wer sich an einer Befragung beteiligt, der erwartet, dass sich danach etwas ändern wird. Zumindest aber, dass die Ergebnisse öffentlich gemacht werden statt dass der Vorstand sie heimlich im stillen Kämmerchen zur Kenntnis nimmt und vor Entsetzen über die schrecklichen Ergebnisse Stillschweigen wahrt.
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) als Türöffner
Auch das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) kann ein Türöffner sein. Laut § 84 Abs. 2 SGB IX haben alle Beschäftigten (nicht nur Schwerbehinderte!), die länger als 6 Wochen oder wiederholt arbeitsunfähig waren, ein Recht auf betriebliche Wiedereingliederung. Heißt auf Deutsch: Man muss – auf Wunsch unter Einbeziehung einer Vertrauensperson – mit den Leuten reden.
Eigentlich sollte das zumindest bei längerer Erkrankung ohnehin die Regel sein. Aber anscheinend war das in der Vergangenheit nicht immer der Fall, so dass der Gesetzgeber nun die Arbeitgeber dazu zwingt. Was tatsächlich neu ist, auch für die Arbeitgeber: Hier geht es nicht nur um arbeitsbedingte Erkrankungen, sondern das BEM erstreckt sich auch auf Erkrankungen, die privaten Ursprungs sind (sofern man das überhaupt eindeutig trennen kann).
Wichtig ist bei den Gesprächen, dass sie nicht als Bedrohung empfunden werden. Ein Misstrauensklima wird keine brauchbaren Antworten hervorbringen auf die Frage, welche Unterstützung sich der Betroffene von Unternehmensseite wünscht. Er muss echtes Interesse spüren, dann wird er sich öffnen. Hier können Betriebs- und Personalräte, aber natürlich auch Menschen aus dem Personalbereich wichtige Aufklärungsarbeit leisten und bei Beschäftigten Ängste hinsichtlich potenzieller Sanktionen abbauen. Manche befürchten eine verschärfte Form eines Krankenrückkehrgesprächs. Weisen Sie die Kollegen darauf hin:
„Der Betrieb muss dir ein Angebot machen, darum geht es!“
Die Annahme des Angebots ist freiwillig.
Sofern beim BEM personenbezogene Gesundheitsdaten erfasst werden, ist zu beachten: Es darf nicht darum gehen, möglichst genaue Daten über den Gesundheitszustand des Beschäftigten zu erheben, sondern es geht darum, wie sich Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz vermeiden lassen. Insofern bietet das BEM häufig Ansatzpunkte, um im Betrieb insgesamt Veränderungen an den Arbeitsbedingungen vorzunehmen – über den Einzelfall hinaus. Angebote des Arbeitgebers in diese Richtung sind grundsätzlich positiv zu bewerten.
Das Unternehmensleitbild als Türöffner
Es ist schick geworden, sich ein Unternehmensleitbild zu geben. Idealerweise wird es nicht einfach von der Konzernspitze vorgegeben, sondern von Führungskräften und Mitarbeitern selber erarbeitet. Der Vorteil aus psychologischer Sicht ist eindeutig: Die Identifikation ist größer, wann immer Menschen mit einbezogen werden. Das Leitbild kann ein Türöffner sein. In der Regel beinhaltet es auch mindestens einen Passus, der betont, dass jeder Mitarbeiter wichtig und wertvoll ist. Oder wenigstens einen, der sich auf die menschenfreundliche Kultur im Unternehmen bezieht. Beschäftigte können sich darauf berufen, dass ihnen zum Beispiel mit Wertschätzung und Respekt begegnet werden soll. Das macht in der Praxis leider kaum jemand. Man fürchtet, sich lächerlich zu machen, wenn man sich aufs Leitbild beruft.
Das ist psychologisch betrachtet ein Zeichen dafür,
dass man sich nicht wirklich mit dem Leitbild identifiziert.
Sinnvoll sind dann meiner Meinung nach Mini-Workshops (2 Stunden – verpflichtend) zur Vertiefung der Inhalte, in denen die Mitarbeiter ihre eigene Meinung zu den Leitlinien kundtun dürfen – zum Beispiel indem sie ihre Kommentare auf Pinwände schreiben, die dann im Foyer ausgestellt werden. Psychologisch wichtig ist auch die handschriftliche (!) Unterschrift der Beschäftigten. Sie werden staunen: Wenn die Leute aufgefordert wurden, sich tatsächlich mit dem Leitbild auseinander zu setzen, unterschreiben es fast alle.
Wenn Sie als Mensch, der im BGM aktiv ist, aufs Leitbild verweisen, sollten Sie nicht damit drohen oder Widersprüche zum Leitbild als Vorwurf formulieren. Weisen Sie lieber darauf hin, dass sich aus dem Leitbild ein anderes Führungsverhalten ableiten lässt, als es im von Ihnen vorgetragenen Fall geschildert wurde. Also nicht „Der Vorgesetzte XY unterläuft unser Leitbild“, sondern „wir haben uns ja alle auf die Führungsgrundsätze im Leitbild verpflichtet – und ich habe es so verstanden, dass …“. Und dann schließen Sie Ihren Vorschlag an (z.B. ein Seminar für alle Führungskräfte des Bereichs Z nicht nur für Herrn XY, der würde sich sonst an den Pranger gestellt fühlen).
Berichte der Betriebsräte, Betriebsärzte, Sozialberater als Türöffner
Auch Erfahrungen derjenigen, die bei der täglichen Arbeit dicht dran sind am Belastungsempfinden der Beschäftigten, können ein Türöffner sein. Wenn sich zum Beispiel in der Betriebsarzt-Praxis oder in der Sprechstunde der Sozialberaterin Fälle von Burnout häufen, kann das ein Anlass sein, das Thema im größeren Rahmen zu diskutieren. Oder wenn sich beim Betriebsrat Klagen über Überlastungen häufen. Depressivität, Schlafstörungen oder chronische Ängste sollten wir als Frühwarnsystem begreifen. Sie signalisieren: Es stimmt etwas nicht. Und dieses Etwas, dem wir auf den Grund gehen sollten, reduziert unsere Leistungsfähigkeit, unsere Lebensqualität und letztlich auch unsere Gesundheit.
Nicht zuletzt gibt es auch private Schwierigkeiten, die sich auf die Arbeitsleistung auswirken. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen „das ist Privatsache“ – wenn sich doch aber die Privatprobleme in der Produktivität niederschlagen, ist es meiner Ansicht nach trotzdem sinnvoll, dass der Betrieb aktiv wird, um mit dem Wohlbefinden auch die Leistungsfähigkeit wieder herzustellen. Eine Sozialberatung oder ein EAP können hierbei gute Dienste leisten. Die Kosten sind geringer als die einer dauerhaften Leistungseinschränkung. Ausgangspunkt, solche Stellen einzurichten, können die Erfahrungsberichte der Betriebsärzte oder Betriebsräte sein.
Dass Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung ein Miteinander statt des üblichen Nebeneinanders pflegen sollten, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Leider stellen viele Führungskräfte diese Verbindung noch nicht selber her. Dabei wollen letztlich auch moderne Arbeitsschützer nicht nur Krankheiten verhindern, sondern auch Wohlbefinden fördern. Das neue Ausbildungskonzept für Sicherheitsfachkräfte zeigt dies auch.
Und für Betriebsärzte ist das psychische Befinden längst zum alltäglichen Thema geworden.
„Früher war Sucht das Hauptthema, heute ist es die Psyche“
– sagte kürzlich eine Betriebsärztin in einem Seminar. Ein Auge darauf haben, mit welchen Symptomen die Leute kommen, ist ein wichtiger Ansatzpunkt für BGM. Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte können zum Beispiel Gesundheitszirkel moderieren. Oder eben die Klagen, die ihnen zu Ohren kommen (auch die Bitte von Beschäftigten: „Schreiben Sie mich bloß nicht krank!“), strukturiert aufbereitet im Arbeitskreis Gesundheit den anderen Mitgliedern zur Verfügung stellen – auch als Argumentationshilfe gegenüber Entscheidern.
Die Mitarbeiterbefragung als Türöffner
Auch Mitarbeiterbefragungen sind natürlich ein guter Türöffner (in der Praxis sind sie allerdings oft eher Resultat eines BGM-Prozesses und weniger der Anlass für einen solchen). Mit schöner Regelmäßigkeit und branchen- sowie hierarchiestufenunabhängig wird hierin die Klage zu lesen sein: „Wir bekommen zu wenig Lob und Anerkennung“. Überall. Das kann ich Ihnen versichern, ohne auch nur einen Blick in Ihren Fragebogen geworfen zu haben. Und da wir alle wissen, dass Anerkennung bzw. Wertschätzung ein Gesundheitsfaktor ist, haben Sie hier einen wunderbaren Einstieg in das Thema „Führung und Gesundheit“ gefunden.
Auf welche Weise Sie Ihre Erkenntnisse aus den „Türöffnern“ am besten im Gespräch mit der Geschäftsleitung präsentieren, ist Inhalt von Kapitel 6.
TIPPS FÜR SIE:
- Nutzen Sie die rechtliche Vorschrift der Gefährdungsbeurteilung oder das SGB V § 20 nicht als Druckmittel, sondern um zu zeigen: „Andere halten das für wichtig!“
- Nutzen Sie, was es in Ihrem Betrieb schon gibt (z.B. ASA-Sitzung, BEM), um Ihre Erkenntnisse zu präsentieren!
- Machen Sie Beschäftigten Mut, sich auf das Unternehmensleitbild zu berufen, ohne Vorwürfe zu erheben.
Zum Schluss zeige ich Ihnen hier links noch das Cover des Buchs (es kostet 22,90 € in D).
Mehr über das Buch (incl. Leseproben) erfahren Sie hier.